Donnerstag, 25. Januar 2024

Stop Stretching!


Hat euch schonmal jemand gesagt, dass ihr nicht beweglich genug seid? Oder habt ihr das schonmal zu einem eurer Athleten gesagt? Dann solltet ihr jetzt weiterlesen.

Mobilität ist für mich ein bisschen ein kontroverses Thema. Es heißt ja oft, dass mehr Beweglichkeit besser ist und auch gegen Verletzungen helfen soll. Ganz so einfach ist es aber nicht, wie so oft bei solchen pauschalen Aussagen.



Wie viel Beweglichkeit wir brauchen ist natürlich sehr individuell. Ein Mensch kommt im normalen Alltag vermutlich mit relativ geringer Mobilität gut aus, ohne dass das negative Auswirkungen hat. In bestimmten Sportarten hingegen wird eine sehr hohe Mobilität benötigt, um in bestimmte Positionen zu kommen. Hier geht es aber dann auch mehr um die Leistungsfähigkeit und nicht um langfristige Gesundheit. Also muss man sich immer fragen, für was benötige ich diese Mobilität. Einen allgemeingültigen Wert, den jeder braucht, gibt es deswegen für mich nicht.

Es kommt auch darauf an, über welches Gelenk wir sprechen. Für manche Gelenke ist eine hohe Mobilität von Vorteil, für andere Gelenke kann zu viel Mobilität aber auch kontraproduktiv sein. Fehlende Mobilität in einem Gelenk wird nicht selten von den Gelenken darüber oder darunter ausgeglichen, die aber eigentlich nicht dafür ausgelegt sind, sondern eben stabil sein sollten. Diese Mobilität an der falschen Stelle führt auf Dauer nicht selten zu Problemen.

Auch wenn es schon ein paar Jahre alt ist, finde ich das Joint-by-Joint Modell immer noch einen ganz guten Ansatz. Das Joint-by-Joint Modell unterscheidet zwischen Gelenken, die möglichst mobil sein sollten und Gelenken, die möglichst stabil sein sollten. Das ganze wechselt sich dabei die Kette der Gelenke entlang immer ab. Also vereinfacht gesagt sollten die Fußgelenke z. B. möglichst mobil sein, die Kniegelenke möglichst stabil, die Hüftgelenke wieder möglichst mobil, Lendenwirbelsäule stabil, Brustwirbelsäule mobil usw. Wenn das genauer interessiert der kann einfach mal nach joint-by-joint googeln. Das ist für mich schon mal eine gute Basis, von der aus wir weiterschauen können.


Wenn jemand eine geringe Mobilität hat, kann das verschiedene Gründe haben. Die Beweglichkeit ist auf der einen Seite in gewissem Maße genetisch veranlagt. Je nachdem, wie elastisch unser Bindegewebe ist, desto mehr oder weniger beweglich sind wir. Deswegen sind Frauen häufig auch beweglicher als Männer. Daran lässt sich auch nicht viel ändern. 

Natürlich kann die Muskulatur auch einfach “verkürzt” sein. Bestimmte Muskeln im Körper reagieren auf zu wenig Benutzung mit Verkürzung. Denn wenn wir einen Muskel nicht ausreichend verwenden, passt er sich entsprechend an. Auch wenn wir ein Gelenk über längere Zeit ruhig stellen, z. B. nach einer Verletzung kann es zu Verkürzungen kommen. Oder wenn ein junger Athlet gerade im Wachstum ist, kann es sein, dass die Muskulatur bei schnellem Wachstum noch nicht an die neuen Längen angepasst ist. 


Wir können aber auch durch unsere passiven Strukturen eingeschränkt sein. Je nachdem, wie z. B. unsere Hüfte gebaut ist, kann es sein, dass wir hier in der Bewegung eingeschränkt sind und an den Anschlag unseres Gelenks kommen. Ihr könnt euch das so vorstellen, dass zwei Knochen zusammenstoßen und die Bewegung dadurch blockieren. Hier können wir so viel stretchen wie wir wollen, aber unsere Mobilität wird sich nicht verbessern. Ganz im Gegenteil, wir werden damit das Gelenk eher reizen und damit Probleme erzeugen. Der Körper kann dann mit Bonespurs reagieren, d. h. er lagert mehr Knochenmaterial an der gereizten Stelle ab, wodurch die Bewegung noch weiter eingeschränkt wird.


Und dann gibt es auch noch die Möglichkeit, dass der Körper auf eine ständige Belastung mit höherer Spannung reagiert, um sich zu schützen. Wenn jemand, der eigentlich sehr flexibel ist, seine Beweglichkeit immer wieder voll ausnutzt und die endgradige Bewegung dabei nicht mehr kontrollieren kann, kann es sein, dass der Körper zum eigenen Schutz die Spannung erhöht und dadurch die Beweglichkeit einschränkt. Wenn wir dagegen anstretchen, arbeiten wir also nur gegen den Schutzreflex unseres Körpers und riskieren damit eine Überlastungsverletzung.

Der Körper passt sich auch sonst der Belastung an. Bei Werfern sieht man z. B. eine Anpassung der Schulterbeweglichkeit. Die Außenrotation nimmt zu, während die Innenrotation abnimmt. Das sieht man ganz gut im Vergleich mit der Nichtwurfseite. Das ist eine funktionelle Anpassung des Körpers.


Je nach Sportart kann eine geringe Mobilität nachteilig, aber in vielen Fällen auch von Vorteil sein.

Ein sehr schnellkräftiger Sportler, hat häufig eine geringere Mobilität z. B.  in seiner Beinbeugemuskulatur und in seinen Sprunggelenken. Beim Toetouch schneiden diese Athleten also oft nicht sehr gut ab. Wenn wir aber glauben, dass wir dem Athleten etwas Gutes tun, wenn wir seine Mobilität erhöhen, um ihn in den “Normalbereich” zu bringen, erweisen wir dem Sportler vermutlich einen Bärendienst. Die hohe Spannung ist vermutlich ein Grund, warum der Athlet besonders gut springen oder springen kann, da er die Kraft direkter übertragen kann und weniger Energie weggepuffert wird. Bevor wir versuchen, die Mobilität eines Athleten zu vergrößern, sollten wir uns daher immer erstmal fragen, ob dies dem Athleten tatsächlich nützt oder ob wir ihn damit im Gegenteil vielleicht sogar weniger leistungsfähig machen.

Also vorsicht was wir hier machen! Der hohe Muskeltonus ist wahrscheinlich ein Leistungskriterium für den Athleten.



Krafttraining ist das bessere Mobilitätstraining


Stretchen hilft, um die Beweglichkeit zu vergrößern. Aber nicht nur die Beweglichkeit ist entscheidend, sondern auch ob wir das Gelenk im Endbereich noch kontrollieren können. Denn ein mobiles Gelenk, das wir nicht stabilisieren können, ist schnell gefährdet für Verletzungen.


Krafttraining über die gesamte Range of Motion hingegen erhöht ebenfalls die Mobilität, trainiert aber im gleichen Zug die Kraft und die Ansteuerung der Muskulatur über den vollen Bewegungsumfang. Somit erhöht sich nicht nur die Mobilität, der Körper kann und muss das Gelenk auch bis in den endgradigen Bereich kontrollieren und stabilisieren.

Das ist gleichzeitig auch die Begrenzung der Bewegungsamplitude im Krafttraining. Wir trainieren über einen Gelenkumfang, den der Athlet kontrollieren kann. Wenn er in der Übung die Spannung oder die Stabilität verliert, ist er zu weit gegangen. Darauf sollten wir immer achten.


In der Regel ist mir ein Athlet mit geringerer Mobilität lieber als ein Athlet mit zu hoher Mobilität. Denn ein hypermobiler Athlet muss sich darauf verlassen, dass seine passiven Strukturen sein Gelenk stabilisieren, da wo es die Muskulatur nicht tut. Das kann zwar auch in vielen Sportarten wieder von Vorteil sein. Ein Werfer z. B. profitiert häufig von seiner hohen Mobilität in Schulter und Ellbogen, da er mehr Schwung erzeugen kann. Wenn diese Bewegung aber immer wieder durchgeführt wird, kann er dadurch gleichzeitig aber auch verletzungsanfälliger sein. Denn die Bänder und Gelenke sind dann einer höheren Belastung ausgesetzt.


Klar, auch fehlende Mobilität kann ein Problem sein, aber einen unbeweglichen Athleten beweglicher zu machen ist meist einfacher und schneller zu erreichen, als einen zu mobilen Athleten stabiler zu machen.


Daher kann es sich auch lohnen, dass wir uns den Unterschied zwischen aktiver und passiver Mobilität genauer anschauen. Zumindest bei den stark beanspruchten Gelenken einer Sportart. Ein Gelenk passiv zu bewegen hat eigentlich immer eine größere Bewegungsamplitude, als wenn der Athlet es selbst aktiv durch die Bewegung führt. Je größer der Unterschied zwischen aktiver und passiver Beweglichkeit aber ist, desto mehr Spielraum hat das Gelenk, in dem es durch fehlende Ansteuerung muskulär nicht mehr optimal gehalten und stabilisiert wird. 


Dabei haben besonders mobile Athleten häufig das Gefühl von Tightness und dadurch das Bedürfnis, sich zu stretchen. Abgesehen davon, dass es für sie häufig schwierig ist ein Stretchgefühl zu bekommen, da sie schon am Anschlag des Gelenks sind, wäre ein zusätzliches Stretching auch kontraproduktiv. Der Körper versucht hier durch Spannung Stabilität zu finden, da sollten mobile Athleten nicht dagegen anarbeiten. Für diese Athleten ist es vor dem Sport eher wichtig aktivierende Übungen zu machen, die ihnen bei der Stabilität helfen, anstatt Übungen zur Mobilisierung zu machen.

Wenn ich dem Körper Stabilität und damit Sicherheit zurückgebe, kann das auch die Mobiliät wieder verbessern weil der Körper die Schutzsteifigkeit aufgibt.

Das kennt jeder bei einer Verletzung. Wenn ihr euch z. B. schonmal den Rücken verrissen habt, habt ihr gemerkt wie die Muskulatur im Rücken direkt zugemacht hat, um weitere Fehlbewegungen zu verhindern und eure Beweglichkeit dadurch extrem eingeschränkt wurde. Durch entsprechende Bewegung lässt diese Spannung dann mit der Zeit wieder nach.


Solcher Muskeltonus lässt sich auch von außen durch Soft Tissue Work oder Massage reduzieren, was kurzfristig eine höhere Beweglichkeit bringt. Hier manipulieren wir allerdings nur das Nervensystem und erzeugen keine tatsächlichen Verbesserungen der Mobilität.


Also Fazit: ausreichende Mobilität ist wichtig, aber was ausreichend oder optimal ist hängt von den eigenen Anforderungen ab und davon von welchem Gelenk wir sprechen. Stretching ist weder gut noch schlecht, sondern einfach nur ein Werkzeug das richtig angewendet werden muss. Die Mobilität zu erhöhen kann also Sinn machen, aber eben nicht für jeden. Und Stretchen ist nicht die einzige Möglichkeit mobiler zu werden, sondern gutes Krafttraining sorgt ebenfalls für eine bessere Beweglichkeit.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen